Immer mehr Christen sehnen sich, so ist es den einschlägigen Untersuchungen zu entnehmen, nach eigenen religiösen Erfahrungen oder „Transzendenzerlebnissen“.
Die Gottesbeweise haben abgedankt und andere Begründungsversuche dafür, warum der Glaube mit der Vernunft verträglich sein sollte, gelten als eher mühsame Lektüre. Im Übrigen, so steht es ebenfalls geschrieben, kann ich letztendlich nur das richtig fest glauben, was ich selbst gesehen und verspürt habe. In diesem thematischen Zusammenhang begegnet immer wieder Karl Rahners Wort aus dem Jahr 1966: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein“.
An all dem dürfte durchaus einiges dran sein. Eigene Erfahrungen sind – bieten sie zwar auch keine absoluten Gewissheiten – in der Regel zuverlässig. Und unsere Zeitgenossen sind allgemein misstrauisch geworden. Misstrauen dem Zeugnis anderer, sind auch der „grauen Theorie“ gegenüber skeptisch eingestellt, wollen viel lieber selbst sehen, um dann selbständig urteilen. Mag ein solcher Zugang zur Wirklichkeit und zum Mitmenschen auch eigene Fragen und gewisse soziale Probleme aufwerfen, er herrscht vor – und das dürfte so bald auch nicht anders werden. Der Versuch, die „aufgeklärten Zweifel“ auf theoretische Art und Weise gesellschaftlich zurückzudrängen, liefe auf einen Kampf mit Windmühlen hinaus.
Was ist da aber kirchlicherseits zu tun? Gar nichts zu unternehmen, birgt ja ganz offensichtlich die beträchtliche Gefahr in sich, dass sich weiterhin viele Christen immer dann von ihrer Kirche abwenden, wenn sich bei ihnen keine mystischen Erfahrungen eingestellt haben.
Die Heilige Messe – ein Ort tiefer Erfahrungen
Was sich allerdings alternativ zu Don-Quijoterien machen ließe, wäre: bedenken zu geben, ob nicht auch die Heilige Messe ein Ort von tiefen Erfahrungen sein könnte. Warum sollten dafür eigentlich nur das Hochgebirge, die offene See, Tibet, Kyoto, das Ashram, Dojo und die Yogagruppe geeignet sein?
Auch die Kirche als Ganze ragt hinein in den Bereich der Transzendenz. Eine solche Aussage mag manchem Katholiken ein schmerzliches Lächeln auf das Gesicht zaubern. Allzu oft hat die Kirche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mit Skandalen, Pannen und den menschlichen Unzulänglichen einiger ihrer Vorsteher und Repräsentanten mit großen Ärgernissen auf sich aufmerksam gemacht. Einverstanden: Dabei dürften auch Skandalisierungen seitens interessierter, kirchenfeindlicher Kreise eine gewisse Rolle gespielt haben. Obwohl ein solcher Verdacht schwer von der Hand zu weisen ist, bleibt jedoch immer noch übergenug „dunkle Substanz“ an Versagen zurück. Ohne dies hier nur im Geringsten bestreiten zu wollen, sollte der Fairness und Wahrheit wegen dennoch ein wenig genauer und differenzierter hingeschaut werden.
Die Kirche ist erstens weder mit der Priesterschaft noch mit ihren sonstigen Amtsträgern identisch. Zweitens ist das Ganze der Kirche nicht nur mehr als ihre Teile, sondern, in diesem besonderen Fall, auch noch einmal etwas deutlich Anderes als diese. Die Kirche ist das wandernde Volk Gottes mit all den Schwächen – zum Teil auch Gemein- und Bosheiten –, die einem oder einigen Menschen nun einmal zu eigen sind. Die Kirche ist aber auch mystischer Leib Christi – und damit beides (sit venia verbo) „unvermischt und ungetrennt“, weswegen das defizitäre Verhalten der sie konstituierenden „Körperzellen“ gar nicht auf den Geist (bzw. metaphorisch: das „Haupt“ Jesu Christi) übergreifen kann. Kurz: Die Kirche bleibt als jenseitiger mystischer Leib Christi heilig – auch dann noch, wenn sich das Kirchenvolk und seine Führer sich keineswegs sämtlich im Stande der Heiligkeit befinden.
Die dem zeitlichen Diesseits zugewandte Kirche ist zwar nicht dieselbe wie die bereits jetzt dem überzeitlichen Jenseits angehörige. Aber sie bilden ein Ganzes, einen „Leib“. Nun ist aber die erstgenannte Seite der menschlichen Sorge zur Vervollkommnung anvertraut. Daraus folgt: Kirche ist nicht nur immerzu auf dem Weg, sie verändert sich auch selbst. Damit aber kann sie vor ihrer Vollendung, die mit der Wiederkehr Jesu Christi anheben wird, nie vollkommen sein.
In eine durch und durch makellos-heilige Kirche würde der irrende und sündigende Mensch auch nur schlecht hineinpassen. Er empfände ihr gegenüber allzu viel Scheu und allzu große Ehrfurcht; würde sie sich eine Stufe weniger ideal, einfach etwas menschlicher, wünschen. Es verhielte sich wie mit einem ganz normalen Kind, das eine makellos schöne, fehlerlose, hochintelligente und insgesamt hoheitsvoll strahlende, dazu auch noch stets perfekt gekleidete Frau zur Mutter hat. Ein solches Kind wäre überaus stolz auf diese großartige Mutter, beneidete aber heimlich die anderen Kinder mit ihren weniger perfekten und beeindruckenden „Mamis“, welche indessen mit dummen Fragen belästigt werden können, die man mit schmutzigen Händchen berühren und mit Tränen netzen darf. Hinzu kommt, dass uns eine vollkommene Kirche der interessanten Möglichkeit wie auch Aufgabe beraubte, an ihr „weiterbauen“ – und dabei so nebenher selbst innerlich wachsen zu können.
Der traditionsbewusste Katholik bejaht die Kirche mehr oder weniger so wie sie ist. Die Bemühung um ihre Vervollkommnung und Reform – Re-form: in dem Wort steckt, recht verstanden, die Rückkehr zur ursprünglichen und normativen Gestalt, nicht der Ausgriff auf ein fernes Utopia – darf zwar niemals fehlen („ecclesia semper reformanda“), aber ein großes und grundsätzliches JA geht voraus. „Der Katholik begehrt keine Ideal- oder Ästhetenkirche, keine Gralsburg auf Erden. Ist auch seine Mutter von langer Wanderung bestaubt, ist auch ihr Antlitz von Sorge und Not durchfurcht – es ist doch seine Mutter. In ihrem Herzen flammt die alte Liebe. Aus ihrem Glauben strahlt der alte Glaube. Von ihrer Hand strömt immerfort der alte Segen.“
Ist die Kirche unsere geistliche Mutter, so ist sie Christi geistliche Braut. Hierbei ergibt sich nun ein Dilemma, das auch ein gewisses Zwielicht auf die Frage nach dem Frauenpriestertum wirft. Ist Christus Bräutigam, die Kirche Braut, der Priester (insbesondere bei der Eucharistiefeier) aber Stellvertreter Christi (handelnd an Christi statt bzw. in persona Christi), wird es als unpassend empfunden werden, auch Frauen zu Priestern zu weihen. So weit so gut (oder doch zumindest: schlüssig). Nun vermag aber auch eine andere Metaphorik eine ehrwürdige Tradition aufzuweisen: Die Kirche ist weiblich, ist Mutter, ist eine marianische Gestalt. Sollte es da nicht ebenfalls als seltsam erscheinen, dass sich ein weibliches Wesen in ihrer spirituellen Mitte (dem Klerus) ausschließlich aus Männern zusammensetzt und sich auch zukünftig ausschließlich durch solche zusammensetzen soll? Dieses Dilemma kann hier nicht aufgelöst werden, scheint aber einen Aufruf zum Weiterdenken in sich zu enthalten.
Die Eucharistie – Raum für Transzendenz
Mit beeindruckender Übereinstimmung haben sich Kirchenlehrer und bedeutende katholische Theologen über viele Jahrhunderte hinweg dafür ausgesprochen, das Sakrament des Altars, die Eucharistie, als Mitte, Quelle und / oder Höhepunkt kirchlichen Lebens zu betrachten. Daran etwas bemäkeln zu wollen, wäre ebenso hochmütig wie lächerlich. Was aber nicht schaden dürfte, ist (in der hier gebotenen Kürze) zu einem verbreiteten Miss- oder „Halb-“verständnis Stellung zu beziehen. Der folgende Irrtum legt sich ja nahe („Tut dies zu meinem Gedächtnis“), dass die Eucharistiefeier einfach die Erinnerung an das letzte Abendmahl – einschließlich der darauffolgenden Passion, dem Tod und der Auferstehung – wachhalten soll. Obwohl das bereits nicht gerade wenig wäre, ist damit in Wahrheit noch lange nicht alles, auch das Wichtigste noch nicht, zum Ausdruck gebracht, fehlt doch, was mithilfe dem theologischen Terminus einer „Transsubstantiation“ unbedingt mitbedacht werden sollte.
Und gerade hier eröffnet sich ein Raum für Transzendenzerfahrungen. Die Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut bewirkt nämlich das Ungeheuerliche, dass sich die Zeitmauer zwischen dem Vorabend der Kreuzigung und heute – sie erstreckt sich etwa über zweitausend Jahre! – einstürzt, in sich zusammenfällt, verschwindet… Wie damals, so spricht und bewirkt nun wieder Jesus Christus selbst, dass es zum Wandel der beiden unsichtbaren Substanzen kommt – wenn jetzt auch mit der Gestik und durch den Mund des Priesters.
Darüber hinaus halten Katholiken daran fest, dass der Herr nach dem Wandlungsworten tatsächlich, nun sogar körperlich, gegenwärtig ist. Derjenige, nach dem „Christen“ sich benennen (Kant meinte einmal, sie sollten sich besser, nämlich grammatisch korrekt, „Christianer“ genannt haben), lebte somit nicht nur als Zeitgenosse etwa Senecas (womit wir uns seiner bloß historisch erinnern könnten); nein, er ist und bleibt lebendige Gegenwart.
Und im Konsumieren des konsekrierten Brotes und Weins geht etwas von seinem göttlichen Leben in unser menschliches mit ein.
Mystische Erfahrung durch mentale Einstellung
Fast immer setzt eine mystische Erfahrung eine bestimmte mentale Einstellung voraus. Wir können versuchen, uns während der Gabenbereitung in die geeignete emotionale Stimmung und in den damit harmonierenden entsprechenden Bewusstseinszustand zu versetzen. Wir sagen uns zum Beispiel: „Sogleich wird etwas Ungeheuerliches geschehen. Das Tor zur Ewigkeit wird sich kurz öffnen und Jesus Christus selbst tritt zu uns herein. Zwar hat er sich wieder einmal ganz klein gemacht, aber jetzt ist er tatsächlich da.“ (Wir warten, was nun in uns oder mit uns geschieht.)
Wäre so etwas nicht zumindest einen Versuch wert? Und sollten dafür nicht gerade die Fastenwochen prädestiniert sein? Zumindest mir scheinen satte Leiber keine geeigneten Subjekte für mystische Erlebnisse zu sein, die sich als solche zwar nie herbeizwingen lassen, für die jedoch durchaus weniger geeignete wie auch geeignetere Voraussetzungen geschaffen werden können. Ein Letztes noch, im Blick auf Rahner:
Vielleicht muss man als Christ ja nicht gleich Mystiker werden; gut möglich, dass es unserem Glauben auch schon gut tut, wenn wir es schaffen, immerhin eine Ahnung davon zu entwickeln, wie es ist (oder sein könnte), echte „Transzendenzerlebnisse“ zu haben. (Oft kommt es dann zu Enttäuschungen, weil man sich einfach zu viel erwartet hatte.)
Eine ringsum gute vorösterliche Zeit wünscht
Ihr Diakon Sigmund Bonk
1 Karl Adam, Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 1940 (12. Auflage), S. 268.
² Freilich gibt es andere Gründe für (die diesbezügliche Benachteiligung der Frau) wie gegen (Jesus, der sonst gerne gegen die Gebräuche der Zeit verstoßen hat, wählte nur Männer in seinen engeren Kreis, einmal 12, einmal 72) das Frauenpriestertum. Das Für und Wider trifft ebenso auf die Emotionen zu. Es schmerzt einen, Frauen benachteiligt zu sehen, aber es tut einem auch weh, befürchten zu müssen, gegen den Willen und das Vorbild Jesu zu handeln. (Persönlich bin ich dankbar dafür hier nichts entscheiden zu müssen.)