Türhüter Tod (Georg Britting)

Die vorösterliche Fastenzeit läuft nicht nur auf Ostern, sondern auch auf den Karfreitag zu. Schon deswegen gehört der Gedanke an den Tod in diese Zeit des Verzichts und der Besinnung unbedingt mit hinein. Weil man vor dem Tod – dem der Nächsten wie auch dem eigenen – große Angst verspürt, scheut man auch vor dem Gedanken daran intuitiv zurück. Aber wie einem der eigene Totenschädel bereits unter der Haut sitzt (erlässt sich unschwer ertasten), so der Gedanke an den eigenen Tod auch früh schon in der Seele (Kindern noch nicht). Nur, dass dem Todesgedanken so gut wie immer der Zugang ins volle Bewusstsein verwehrt wird. In der Fastenzeit könnte und sollte das aber auch einmal anders sein. (Beständige Verdrängungen machen die Seele krank.)
Mit Kunst, Musik und Literatur geht so manches leichter! So besehen empfiehlt es sich, den Gedanken an den Tod in einer künstlerisch schön verpackt ins Licht des vollen Bewusstseins zu führen. In den Lyriksammlungen besteht kein Mangel an „Todes-Sonetten“ – hier ein Beispiel aus der Gedicht-Sammlung „Die Begegnung“ (gemeint: mit dem eigenen Tod) des von mir hoch geschätzten Regensburger Dichters Georg Britting (1891-1964).
Als Altbayer ist ihm die prächtige Gestalt des „Boandlkramers“ aus dem Volksstück „Der Brandner Kaspar schaut ins Paradies“ von Kindheit an bekannt gewesen. An dessen hintersinnig-vergnügliche Monologe angelehnt, hat Britting in dem nun folgenden Gedicht einen ebenfalls mürrischen „Tod“ wie folgt sinnieren lassen:

TÜRHÜTER TOD
Von drüben weiß ich nichts.  Mein Dienst geht hier,
Auf dieser Erd. Türhüter bin ich, und
Mach auf, mach zu. Darf wie ein Kettenhund 
Niemals ins Haus. Viel besser habt es ihr.
Ihr seid geladne Gäste. Aber mir
Bleibt nur das Nachsehn. Sagt, hab ich nicht Grund
Betrübt zu sein? Ich starr mit offnem Mund
Neidisch euch nach. Bin ich ein räudig Tier?
Ein Ausgestoßner? Wie mags drüben sein? 
Ich möcht wie ihr mir Kenntnisse erwerben. 
Mich hält man dumm. Warum darf ich allein
Niemals ins Haus? Was hat man mit mir vor?
Soll ich denn ewig stehen vor dem Tor?
Ihr Glücklichen! Warum darf ich nicht sterben?

Wird im Stück vom Brandner Kaspar der Tod wie ein Häscher dargestellt, der vom Himmel herunter auf die Erde gesendet wird um die „Fälligen“ nach oben zu holen, so wechselt Britting das Bild: Hier steht der Tod als Wächter vor einer Tür oder einem Tor, das die soeben Verstorbenen in eine andere Welt führt, i. e. in den Himmel, den der Tod selbst aber nie zu sehen bekommt. (Ihm bleibt das Tor für alle Zeit verschlossen, da das himmlische Leben ja nun einmal ein ewiges ist.)
Aber nicht nur das Bild hat der Dichter ausgetauscht, sondern auch fast alles, was gemeinhin mit dem Tod assoziiert wird. Das Tor zur Ewigkeit und der Türsteher davor werden aus Fluch- und Fluchtorten zu Verheißungs- und Sehnsuchtsorten. Und die Menschen (die bei Homer immer nur als „die Sterblichen“ bezeichnet sind) werden ob dieser Sterblichkeit nicht bedauert, sondern ganz im Gegenteil glücklich geheißen. „Ihr Glücklichen! Warum darf ich nicht sterben?“ Sterben-Können ist zum Privileg geworden, die Unsterblichkeit (des Todes) zu seinem Fluch – wenn dieses Privileg leider auch allen Atheisten unerreichbar ist. Diese nämlich sehen keine Tür und kein Tor, ihnen kommt bei dem Wort Tod – und das ist sehr wenig und recht traurig – nur eine Grube und ein Loch in den Sinn…
Als ich das Gedicht las, kam mir, nach langer Zeit wieder einmal, ein ganz bestimmter Türsteher in den Sinn, den ich vor mehr als zwanzig Jahren ziemlich oft vor einem „Club“ am Regensburger Jesuitenplatz habe stehen sehen. (Ich wohnte damals in der nahen Obermünsterstraße und ging dort oft vorbei.) Dabei handelte es sich um eine ziemlich furchteinflößende Gestalt: ein hünenhaft großer, breitschultriger, glatzköpfiger Kerl in Lederjacke, anscheinend gründlich durchtätowiert (hinauf bis an den Hals), dem eine perfekt dazu passende barsche Bass-Stimme zu eigen war. In seine Reichweite zu kommen suchte man instinktiv ebenso zu vermeiden wie jeden direkten Augenkontakt.
Eines Abends aber sah ich ihn mit einem älteren Mann scherzen, hörte ihn überraschend angenehm lachen und sah, wie sich sein Gegenüber (sein Vater, vielleicht auch sein Firmpate?) über dieses Gespräch herzlich freute. Da wurde mir klar: Du hast dem Türsteher vermutlich Unrecht getan; allem Anschein nach ist der große Unheimliche ganz nett, vielleicht auch ein echter Familienmensch, ein liebevoller Gatte und Vater – und ein guter und verlässlicher Freund obendrein. Selbst der Gedanke, dass ich mich ja selbst mit dem Lachenden anfreunden könnte, schoss mir durch den Kopf…
Wäre es denn nicht wundervoll, sich auch mit dem Gedanken an den eigenen Tod auszusöhnen? Noch fällt sein beunruhigender Schatten auf so vieles, das uns beschäftigt und freut. Wie es wohl wäre, wenn es uns gelänge, das Licht im Tod wahrzunehmen, ihn gar hauptsächlich in diesem Licht zu sehen („Ihr Glücklichen! Warum darf ich nicht sterben“)? Wären wir dann nicht von einem latenten Albdruck frei geworden? Sollten wir nicht erst dann durch und durch glücklich sein können – „hier“ immer wieder einmal nicht anders als „dort“ für alle Zeit?
Zum Triumvirat im Reich der Musik gehörte für den Dichter und Musikfreund Georg Britting (neben Gluck und Richard Strauß) auch Mozart. Im Jahre 1787 schrieb „Wolferl“ an seinen geliebten Vater Leopold:
„Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes. Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen.“
Ich wünsche Ihnen noch weitere besinnliche Fastentage und grüße Sie recht herzlich als
Ihr Diakon Sigmund Bonk

1) T.R. gewidmet.
2) Georg Britting, „Türhüter Tod“, in: ders., Die Begegnung (= Sämtliche Werke, Band 4), Höhenmoos 2008, S. 31 (erstmals: München 1947)